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24.10.07

Stephen King über Harry Potter - Vorabdruck aus Vanity Fair
Vanity FairDiese Woche erscheint »Harry Potter und die Heiligtümer des Todes«. Exklusiv für VANITY FAIR bespricht der Bestsellerautor das erfolgreichste Buch unserer Tage. Hat es auch ihn verzaubert? Vanity Fair hat diesen Text zur Vorab-Veröffentlichung im TP-NACHT von HogwartsOnline freigegeben.

(Anmerkung von Magister Foran: Jaja, wer die "Heiligtümer" noch nicht gelesen hat, will vermutlich erst Band 7 lesen und danach diesen Artikel. Spoiler und so.) - So ist der Wirrwarr denn zerronnen, die Schlacht verloren und gewonnen - die Schlacht von Hogwarts, meine ich - und alle Geheimnisse sind aus dem Sprechenden Hut. Wer darauf gesetzt hatte, Harry Potter würde sterben, hat sein Geld verloren: "The boy who lived", wie bereits das erste Kapitel des ersten Buches überschrieben ist, tat exakt dies. Und wenn Sie nun finden, das hätte ich jetzt nicht verraten dürfen, können Sie kein großer Harry-Potter-Fan sein. Die Wut über die Schlussverräter in vielen Zeitungsredaktionen ist verraucht - wenn auch für viele Fans ein bitterer Nachgeschmack bleibt.

Auch ich habe ihn noch auf der Zunge, obwohl das nichts mit der letztlich dummen Idee zu tun hat, jemand könnte einem den Spaß verderben, indem er das Ende verrät. Die allseits verkündete Omertà vor dem Erstverkaufstermin der Originalausgabe war, bei Lichte betrachtet, nicht mehr als eine Verlagsstrategie und sicher nicht Teil der Magna Charta oder unserer Verfassung. Und auch dass Jo Rowling voller Leidenschaft protestierte ("Ich bin entsetzt, dass sich einige amerikanische Zeitungen dazu entschlossen haben ? in völliger Missachtung der Wünsche von mehreren Millionen Lesern, besonders von Kindern ?"), kann mich nicht sonderlich rühren. Ihre Bücher waren sowieso schon kaum mehr nur Kinderbücher; seit dem "Feuerkelch" schrieb Rowling für alle und wusste es.

Stephen King 2007, Bildquelle: Wikimedia CommonsDas deutlichste Zeichen, wie "erwachsen" die Bücher zum Ende hin wurden, findet sich - auf großartige Weise - in den "Heiligtümern des Todes", als Mrs Weasley sieht, wie die widerwärtige Bellatrix Lestrange Ginny mit einem tödlichen Fluch belegen will. "Not my daughter, you bitch!" (Nicht meine Tochter, du Schlampe!), schreit sie da. Das ist die schockierendste "Schlampe" der jüngeren Literaturgeschichte: Da in den Harry-Potter-Büchern praktisch nicht geflucht wird (wenigstens nicht im linguistischen Sinn), entfaltet das Wort hier eine beinahe tödliche Kraft. Es steht vollkommen korrekt an dieser Stelle, stellt gleichzeitig aber auch eine durch und durch erwachsene Antwort auf die Bedrohung des Kindes dar.
Das Problem mit den vorab und gleich nach Erscheinen gedruckten Rezensionen verfolgt Rowlings Großwerk seit Buch vier, seit die Reihe mit "Harry Potter und der Feuerkelch" endgültig zu einem weltumspannenden Phänomen wurde. Dank der Kreml-gleichen Geheimhaltungspolitik um die jeweils neuen Bücher sind alle Besprechungen seit etwa dem Jahr 2000 aus dem Stegreif entstanden. Die Rezensenten gehörten nicht selten zu den bekanntesten ihrer Zunft - selbst Michiko Kakutani, Starkritikerin der "New York Times", fühlte sich berufen - aber die ausgesprochene Popularität der Bücher hat ihnen in aller Regel einen Strich durch die Rechnung gemacht.Als brave Schäfchen der Kirche des Ich-will-aktuell-Seins haben auch die besten Kritiker in ihrer Hast wenig Erinnerungswürdiges zu Papier gebracht.

Der Großteil der so entstandenen Instant-Rezensionen sieht Harry, von seinen Freunden und Abenteuern gar nicht zu reden, aus nur zwei Perspektiven: der soziologischen ("Harry Potter: Segen oder Kinderseuche?") und der wirtschaftlichen ("Harry Potter und die Kammer der Discountpreise").
Auf Sprache und Plot wird nur ein flüchtiger Blick geworfen, und das war?s dann auch schon. Aber wie sollte es auch anders sein?
Wer nur vier Tage hat, um 768 Seiten zu lesen und einen Vier- oder Fünfspalter darüber zu schreiben - wie viel Zeit bleibt dem noch, das Buch richtig zu genießen? Oder darüber nachzudenken?

Joanne K. Rowling hat ein üppiges, siebengängiges Menü angerichtet, sorgfältig vorbereitet, herrlich zubereitet und liebevoll serviert. Kinder und Erwachsene, die ihren Büchern verfallen sind (ich gehöre auch dazu), haben sich jeden einzelnen Bissen auf der Zunge zergehen lassen, von der Vorspeise, dem "Stein der Weisen", bis zum Dessert, dem prächtigen Epilog der "Heiligtümer des Todes". Die meisten Rezensenten dagegen haben alles nur hinuntergeschlungen und anschließend halb verdaut in ihren Zeitungen wieder hervorgewürgt.

Und so haben sich nur sehr wenige relevante Kritiker ernsthaft damit beschäftigt, was Ms Rowling da geschaffen hat, wo es herkommen und was es für die Zukunft bedeuten mag. Die Blogs im Internet sind im Übrigen nicht besser. Denen scheint es vor allem darum zu gehen, wer lebt, wer stirbt und wer was quasselt. Der Rest ist ziemlicher Murks.

Was also ist passiert? Wo kam dieses ministry of magic, dieses magische Werk nun eigentlich her?

Es gab Vorboten. Während eierköpfige Akademiker und Erziehungsexperten noch den Tod von Büchern und Lesen beklagten und lamentierten, dass sich unser Nachwuchs nur für seine Xbox, für iPods, Avril Lavigne und das "High School Musical" interessierte, wandten sich ebenjene Kids, um die sie sich so sehr sorgten, unbemerkt den Romanen eines gewissen Robert Lawrence (R. L.) Stine zu. War Stine im College noch als "Jovial Bob" bekannt gewesen, verdiente er sich jetzt einen anderen Spitznamen, und zwar den des, ähäm, "Stephen King der Kinderliteratur".

1986 schrieb Stine seinen ersten Horrorroman für Teenager ("Der Anruf"), das war Jahre vor Anbruch der Potter-Manie, und bald schon sah man zwei, drei seiner Titel auf jeder einzelnen Bestsellerliste von "USA Today". Auch in Deutschland verkauften sich seine Bücher stapelweise.
Von der Kritik wurden die Bücher geradezu systematisch übersehen - Michiko Kakutani hat nie über den "Fluch des Mumiengrabs" geschrieben - aber Stines Leser schenkten ihm größte Aufmerksamkeit, und so segelte er auf der Woge seiner Beliebtheit und profitierte womöglich auch vom sich mausernden Internet. Am Ende war er der vielleicht bestverkaufte Kinderbuchautor des 20. Jahrhunderts.
Wie Rowling veröffentlichte er in den USA bei Scholastic, und ich habe keinen Zweifel daran, dass der Verlag aufgrund von Stines Erfolg auch die junge, damals unbekannte britische Autorin in sein Programm aufnahm. Stine bleibt in der breiten Öffentlichkeit bis heute so unbekannt wie ungepriesen, aber auch schon Johannes der Täufer kam bei der Presse nicht so gut an wie anschließend Jesus.

Rowling wurde sehr viel erfolgreicher als Stine, bei den Kritikern und auch wirtschaftlich, weil die Potter-Bücher "wuchsen". Da liegt, wie ich glaube, ihr großes Geheimnis (das eigentlich gar kein Geheimnis ist: Gehen Sie in den Film "Harry Potter und der Orden des Phönix", und sehen Sie, wie der einst so süße Knirps Ron Weasley seine Freunde Harry und Hermine überragt). R. L. Stines Kinder bleiben Kinder, und seine Leser wachsen aus den Büchern heraus, so wie sie aus ihren Kinder-Nikes herauswachsen. Jo Rowlings Helden wachsen heran und ihre Leser mit ihnen. Das hätte natürlich nicht viel bewirkt, wäre Jo Rowling eine lausige Schreiberin gewesen, aber das ist sie nicht - sie war und ist eine unglaublich begabte Romanautorin.

Während in einigen Blogs und auch in einigen Zeitungen zu lesen war, vor allem Rowlings Ehrgeiz könne mit der gigantischen Popularität ihrer Bücher Schritt halten, haben fast alle übersehen, dass auch ihr Talent wuchs. Das Talent eines Menschen ist niemals statisch, es wächst oder versiegt.

Die Sache ist die: Rowling war schon viel besser als R. L. Stine (ein solider, aber witzloser Autor), als sie begann - als sie bei der letzte Zeile der "Heiligtümer des Todes" angekommen war ("All was well" - "Alles war gut"), war sie zu einer der besten Stilistinnen Englands geworden, nicht so gut wie Ian McEwan oder Ruth Rendell (zumindest noch nicht), aber mindestens auf einer Stufe mit Dame Beryl Bainbridge und Martin Amis.

Und natürlich war da die Zauberei. Die wollen Kinder mehr als alles; danach sehnen sie sich. Das reicht zurück bis zu den Gebrüdern Grimm, Hans Christian Andersen und der guten alten Alice, die hinter dem weißen Kaninchen herrennt.

Kinder suchen immer nach dem ministry of magic, dem Werk der Magie, und für gewöhnlich finden sie es auch. Eines Tages ging ich die Straße bei mir zu Hause in Bangor hinunter und sah einen schmuddeligen, etwa dreijährigen Jungen mit verschrammten Knien, der höchst konzentriert vor sich auf den Boden starrte. Er saß auf dem Streifen Erde zwischen Bürgersteig und Fahrbahn, hielt einen Stock in der Hand und stach damit wieder und wieder in den Dreck. "Runter da!", rief er. "Runter da, verdammt! Du darfst erst rauskommen, wenn ich das besondere Wort sage!" Mehrere Leute gingen an dem kleinen Kerl vorbei, ohne ihm große Beachtung zu schenken (wenn überhaupt). Ich hielt jedoch an und sah ihm so lange wie möglich zu, wahrscheinlich, weil ich selbst so oft damit beschäftigt bin, die Dinge, die in meiner Fantasie leben, zurück nach da unten zu schicken und sie erst rauskommen zu lassen, wenn ich es sage. Das so selbstverständliche Spiel des Jungen gefiel mir (wenn es denn ein Spiel war - hehehe!) und machte mir gleichzeitig Verschiedenes bewusst: Wenn es zum Beispiel kein Kind, sondern ein Erwachsener gewesen wäre, der da seine Drohungen ausgestoßen hätte, wäre die Polizei schnell da gewesen und hätte ihn entweder in eine Ausnüchterungszelle oder die nächste psychiatrische Anstalt gebracht, um ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Kinder, die paranoide oder schizoide Tendenzen zeigen, werden in den meisten Gesellschaften akzeptiert. Wir alle wissen, dass unser Nachwuchs bis etwa acht verrückt ist, und schenken seiner tollen, alles für möglich haltenden Fantasie viel Raum.

Das mit dem Jungen war 1982. Damals bereitete ich mich gerade darauf vor, eine lange Geschichte über Kinder und Monster zu schreiben ("Es"), und der Vorfall beeinflusste meine Überlegungen zu dem Roman enorm. Selbst heute noch denke ich voller Wärme an den kleinen Zaubereiminister mit seinem trockenen Zweig als Zauberstab, und ich hoffe nur, dass er sich nicht schon zu alt für Harry Potter fühlte, als die Bücher herauskamen. Das könnte gut sein, und der Gedanke stimmt mich traurig; aber manchmal, eigentlich oft, hat es mit der Magie eben ein Ende - ein Umstand, den J. R. R. Tolkien durchaus einräumt, Rowling allerdings nie!

Wie ihr Vorgänger Stine, aber mit weit größerem Geschick, begeisterte Joanne K. Rowling zunächst Kinder und demonstrierte mit dem unwiderlegbaren Argument atemberaubend vieler verkaufter Bücher, dass Kinder auch heute noch dazu bereit sind, ihre iPods und Gameboys zur Seite zu räumen und stattdessen ein Buch in die Hand zu nehmen ? wenn die Magie da ist. Dass das Lesen selbst schon etwas Verzauberndes hat, habe ich nie bezweifelt.

Ich gäbe eine Menge dafür zu wissen, wie viele Teenager (und jüngere Kids) ihren Freunden und Freundinnen nach Erscheinen des letzten Buches wohl per SMS mitgeteilt haben: "RUF HEUTE NICHT AN! ICH LESE!"

Genauso war es wahrscheinlich mit R. L. Stines phänomenal erfolgreichen "Gänsehaut"-Büchern, aber im Gegensatz zu ihm zog Rowling auch Erwachsene in ihren Leserkreis. Das ist kein unbekanntes Phänomen, scheint aber vor allem englischen Autoren zu gelingen.
"Alice im Wunderland" fing als eine Geschichte an, die Charles Dodgson (alias Lewis Carroll) der zehnjährigen Alice Liddell erzählte, heute wird das Buch in den Literaturkursen unserer Colleges gelesen. "Unten am Fluss", Richard Adams Version der "Odyssee" (mit Kaninchen statt Menschen), diente zunächst dazu, seine kleinen Töchter Juliet und Rosamond auf einer langen Autofahrt bei Laune zu halten. Als Buch wurde es zu einem Märchen für Erwachsene und zu einem internationalen Bestseller.

Vielleicht liegt es an der englischen Art zu schreiben. Diesen ruhigen, vernünftigen Stimmen kann man kaum widerstehen. Vor allem, wenn sie das Reich der Fantasie betreten, haben sie etwas geradezu Hypnotisches. Rowling stand von Beginn an in dieser Tradition des geradlinigen Erzählens ("Peter Pan" vom Schotten J. M. Barrie ließe sich hier ebenfalls anführen).

Niemals verliert sie ihr Hauptthema aus den Augen - nämlich, dass die Kraft der Liebe aus verwirrten, oftmals verängstigten Kindern anständige, verantwortungsbewusste Erwachsene machen kann. Trotzdem steht immer die Geschichte, der Plot im Vordergrund. Und was sie erzählt, ist eher klar und leuchtend, als dass es glitzert und schillert, aber das ist in Ordnung. Wenn sie starke Gefühle ausdrückt, behält sie die Kontrolle, ohne deren Wahrheit oder Macht abzustreiten.

Das hübscheste Beispiel dafür kommt gleich vorn in den "Heiligtümern des Todes", als Harry sich an seine Kinderjahre bei den Dursleys erinnert. "Die Erinnerung an jene Zeit gab ihm ein komisch leeres Gefühl", schreibt sie. "Es war, als erinnerte er sich an einen jüngeren Bruder, den er verloren hatte." Das ist aufrichtig, nostalgisch, nicht schludrig und ein Beispiel für den Stil, der Rowling ihren "Generationssprung" ermöglicht hat. Ihre Figuren sind lebendig und gut gezeichnet, ihr Tempo ist makellos, und selbst wenn einzelne Stränge hier und da etwas holpern, entwickelt sich die Geschichte als Ganzes doch fast perfekt über die mehr als 4 000 Seiten. Und Jo Rowling besitzt diesen berühmten trockenen englischen Witz, zum Beispiel, als Ron mit seinem Zauberradio einen Piratensender hereinzubekommen versucht und dabei auf einen Popsong mit dem Titel "A Cauldron Full Of Hot Strong Love" ("Ein Kessel voller großer, heißer Liebe") stößt. Die Sängerin muss eine Art Hexenversion von Donna Summer gewesen sein. Nicht vergessen sollten wir auch die Ironie, die Rowling der englischen Boulevardpresse zuteilwerden lässt (über die sie mit Sicherheit einiges zu erzählen weiß). Rita Skeeter, im Deutschen Rita Kimmkorn, ist vielleicht einer der besten Namen für eine Romanfigur seit denen von Jonathan Swift. Als Elphias Doge, der perfekte englische Zauberer-Gentleman, Rita "an interfering trout" nannte (etwa: eine "quertreibende Bachforelle"), wäre ich am iebsten aufgestanden und hätte applaudiert. Das verdaue erst mal, Mädchen! Rowlings Bücher haben viel Fleisch - sind voller ehrlicher Gefühle und getragen von einem liebenswerten, aber kompromisslosen Blick auf die menschliche Natur und unsere harte Wirklichkeit: "NICHT MEINE TOCHTER, DU SCHLAMPE!" Die Tatsache, dass Harry Erwachsene wie Kinder begeistert, hat mich nie überrascht.

Sind die Bücher perfekt? Sicher nicht. Manche Abschnitte sind zu lang. In den "Heiligtümern des Todes" wird so fürchterlich viel umhergewandert und campiert, dass man das Gefühl hat, sie schießt über das Schuljahr hinaus, um das Format der vorigen sechs Bücher zu erreichen. Und manchmal wird sie Opfer des Robinson-Crusoe-Syndroms: Wann immer der auf seiner einsamen Insel festsitzende Robinson etwas brauchte, das es dort nicht gab, schwamm er hinaus zu seinem Schiff, das günstigerweise auf dem Riff vor der Insel auf Grund gelaufen war, und fand es in einer der Kajüten oder im Laderaum (in einem der amüsantesten Kontinuitätsfehler der englischen Literatur schwimmt Robinson dabei nackt hinaus - und füllt sich dann die Taschen).
Wenn Harry und seine Freunde mit dem Rücken an die Wand geraten, produzieren sie auf ziemlich ähnliche Weise neue Zaubersprüche, löschen Feuer, verwandeln Treppen in Rutschen. Die meisten dieser Tricks akzeptiere ich, weil ich noch genug Kind bin, um mit Schadenfreude statt mit Zweifeln zu reagieren (in gewisser Weise vermitteln sie die Freude am Zaubern besser als andere Bücher die Freude am Kochen), vor allem aber, weil ich weiß, dass die Zauberei ihren eigenen Gesetzen folgt.

Dennoch, als die Schlacht von Hogwarts mit polternden Riesen, applaudierenden Porträts und fliegenden Zauberern ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, sehnte ich mich fast danach, dass endlich einer eine gute alte MAC-10 hervorholt und um sich ballert wie Rambo. Sollte man diese "kreativen" Zaubersprüche, ähnlich wie Crusoes Schiff, tatsächlich als Zeichen kreativer Erschöpfung der Autorin verstehen wollen, okay - aber sie bleiben das Einzige, und das ist beachtlich.

Meist hat Jo Rowling Spaß an ihrer Sache und übertrifft sich selbst, und wenn eine so gute Autorin mit Spaß schreibt, dann überträgt sich der auch auf ihre Leser. Ein Letztes noch: Die eierköpfigen Akademiker scheinen nicht zu glauben, dass Harrys Zauber eine Generation von Nichtlesern in Bücherwürmer verwandeln kann. Aber sie sind nicht die Ersten, die Harrys Zauberkraft unterschätzen. Dass die Eierköpfe Harry überhaupt einen Einfluss zubilligen, liegt allein an seiner Präsenz auf den Bestsellerlisten. Ein literarischer Held von der Größe der Beatles? "Nie und nimmer!", hätten die Eierköpfe zu Anfang noch gerufen. "Der traditionelle Roman ist so tot wie Jacob Marley in Dickens? ?Weihnachtsgeschichte?! Fragen Sie alle, die etwas davon verstehen! Mit anderen Worten: Fragen Sie uns!" Bei Kindern war das Lesen niemals tot. Au contraire, ihrer Lesekultur geht es wahrscheinlich besser als der von uns Erwachsenen, die wir uns jedes Jahr neu mit Hunderten von prätentiösen "literarisch nennenswerten" Romanen herumzuschlagen haben.

Während die Eierköpfe nach wie vor die postliterarische Gesellschaft voraussagen (und beklagen), ergänzt unser Nachwuchs seine Harry-Lektüre durch die Geschichten von Lemony Snicket, die Abenteuer des jungen Superhirns Artemis Fowl, Philip Pullmans anspruchsvolle Trilogie "His Dark Materials", die Abenteuer von Alex Rider und durch Peter Abrahams? erstklassige Ingrid-Levin-Hill-Krimis. Vergessen wir auch nicht den unsinkbaren (und manchmal leicht riechenden) "Käpt?n Superslip", und zücken wir den Hut vor R. L. Stine, Jo Rowlings launigem Johannes (dem Täufer). Mit einem Shakespeare-Zitat habe ich begonnen, mit einem von The Who will ich schließen: "The Kids Are Alright". Wie lange das noch so bleibt, hängt in gewisser Weise von Autoren wie J. K. Rowling ab, die eine gute Geschichte (wichtig) zu erzählen wissen und das nicht von oben herab (noch wichtiger) oder gar hochtrabend schwafelnd (lebenswichtig) tun.

Denn wenn das Feld in die Hände all der intellektuellen Muggel gerät, die glauben, der traditionelle Roman wäre tot, bringen sie ihn tatsächlich noch um. Ich rede von Fantasie. Bekannt in eingeweihten Kreisen als ministry of magic, als Werk der Magie. J. K. Rowling hat Standards gesetzt, und zwar hohe. Dafür sei sie gepriesen.

[ Quelle: Vanity Fair exklusiver Vorabdruck ]
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Von MagisterForan 23:49 - (Link zu diesem Artikel)