15.11.03

Das Ende der Magie oder: Hogwarts bei Hoyerswerda
In der Wochenendausgabe 8./9.11. 2003 veröffentlichte die BERLINER ZEITUNG auf Seite 9 als Aufmacher ihres Feuilletons folgenden Beitrag, den wir Ihnen, liebe Leser-Innen, hier mitteilen ? hat er doch mit Hoyerswerda mindestens so viel zu tun wie mit Hogwarts.

Ein Waisenjunge folgt seiner Berufung und begibt sich auf eine abgelegene Zauberschule. Er wird in allen schwarzen Künsten unterwiesen und wächst von Jahr zu Jahr, erfährt Grausamkeit und Verrat, Freundschaft und Liebe und die großen Versuchungen eines Wunderkindes; er gerät in höchste Gefahr und wankt nicht, er kämpft für das Gute und gegen das Böse.

NICHT Harry Potter...

Diese Geschichte, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen verzaubert hat und in gut zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurde, spielt nicht in Hogwarts, sondern bei Hoyerswerda, stammt nicht von Joanne K. Rowling, sondern von Otfried Preußler, und ihr Held heißt nicht Harry Potter, sondern - Krabat. Jetzt, da der fünfte Band der Potter-Saga auf Deutsch erschien, junge Leser mit Zauberhüten die Buchhandlungen stürmten und Politiker um deren Seelen fürchte(te)n - die bayrische Familienministerin warnte vor dem Schaden, den gruselige Buchpassagen anrichten könnten -, da ist es an der Zeit, sich an den Erfolg der nicht weniger gruseligen Geschichte des sorbischen Zauberlehrlings zu erinnern. Was ist, im Vergleich betrachtet, die Magie von Rowling? Und warum kann man beim fünften Band den Eindruck nicht abwehren, dass es mit dieser Magie zu Ende geht?

Kinder lieben Zauberei, wie jeder weiß, der Kinder kennt. Sigmund Freud, der das magische Denken von Kindern zusammen mit dem von ?Primitiven? und Neurotikern untersucht hat, hat das damit erklärt, dass Kinder ?motorisch noch nicht leistungsfähig? seien und deswegen die Befriedigung ihrer Wünsche halluzinieren müssten. Wo die eigenen Wünsche mit der Wirklichkeit zusammenstoßen, muss Letztere nachgeben und der Allmacht der Gedanken weichen.

Sigmund Freuds Spuren

Das ist die einfache kindliche Magie, wie sie uns schon ganz zu Anfang von Rowlings Werk begegnet, lange bevor Harry Potter seine Berufung als Zauberer erfährt. Er ärgert sich über den Haarschnitt, den ihm seine Tante in der Rolle der bösen Pflegemutter verpasst hat - und schwupps! sind die Haare wieder da, ohne Simsalabim und Zauberstab. Er ärgert sich beim Zoobesuch im Schlangenhaus über seinen Cousin Dudley - und schwupps!, verschwindet die Glasscheibe, die diesen von der Boa Constrictor trennt.

Joanne Rowling hat ein sicheres Gespür für kindliche Psychologie, das zeigt sich in solchen Szenen. Es zeigt sich darüber hinaus im gesamten, geradezu Freud?schen Plot - da wird jenseits der Alltagsfamilie eine bessere, edle Herkunft entdeckt, ja die eigene Auserwähltheit - und darin, dass Rowling anders als die meisten Kinderbuchautoren keinen Bogen um das Böse macht. Das Böse darf in dieser Welt präsent und, nun ja, richtig grausam böse sein. Auch die gesamte magische Gegenwelt, die sie mit Witz und Fantasie entworfen hat, samt Eulenpost und Zauberbürokratie, hat eine psychologisch plausible - manchmal allzu plausible - Gestalt. Die ?Dementoren? etwa, gruselige Kuttengestalten, die alle Freude und Hoffnung aus ihren Opfern heraussaugen, sind unschwer als Depressionen zu erkennen, denen Rowling ein Bettlaken umgeworfen hat.

Diese Geisterwelt und die zu ihr gehörende Magie ist nun an ihr Ende gekommen. Den von der Autorin unbeabsichtigten Untergang bezeichnet der Show-Down am Ende des jüngsten Bandes, der - so viel nur sei verraten - im Archiv des Zauberministeriums spielt. Da werden über gut dreißig Seiten Zaubersprüche abgefeuert, wird Feuerschutz gegeben und Deckung gesucht, und die fehlgegangenen Verwünschungen lassen Fensterscheiben splittern - kurz, Zauberei ist verkommen zur Schießerei, und der Leser fragt sich, ob die Zauberstabverkäufer von Diagon Alley im nächsten Band wohl die ersten Exemplare mit Fadenkreuz anbieten werden.

Schielen auf den Film

Hat Rowling sich zu diesem Shoot-out hinreißen lassen, weil sie - wie der Potter-Kenner Michael Maar in der ?Welt? meinte - auf die Verfilmung schielte? Oder bezeichnet die Schlussszene nur den vorläufigen Endpunkt einer Fehlentwicklung, die in der Erzählung ohnehin angelegt war?

Die Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin Antonia Byatt - eine begeisterte Tolkien-Leserin - hat in der New York Times Rowlings Magie eine ?Magie für unsere Zeit? genannt. Rowling begeistere - neben den Kindern - eine Erwachsenengeneration, der der Sinn für das Geheimnisvolle abgehe; die mit ihrer beschränkten Fantasie gar nicht mehr in der Lage sei, ?Magie-Ersatz? (?ersatz magic?) von richtiger Magie zu unterscheiden, weil sie statt des wirklich Wilden nur den Dschungel der Stadt kenne. Der Zauberwald von Hogwarts etwa sei ?klein, auf dem Schulgelände und gefährlich nur, weil die Verfasserin es behauptet?.

Kein Platz für Höheres

Man muss das Problem nicht dermaßen kulturpessimistisch formulieren. Aber man kann, mit Antonia Byatt, eine Lücke in Rowlings Welt benennen, die von Band zu Band deutlicher wird. Je älter der Held wird, je weiter er sich also zwangsläufig von seiner kindlichen, allein wunschgetriebenen Magie entfernt, desto größer ist die Notwendigkeit, das magische Handeln auf etwas anderes abzustützen. Aber worauf? In Rowlings Büchern ist kein Platz für das Numinose, für höhere Mächte, höher noch als die Mächte der Zauberergemeinschaft. ?Niemand versucht etwas zu retten oder zu zerstören, das jenseits von Harry Potter, seinen Freunden und seiner Familie liegt?, schreibt Byatt.

Man kann das auch so ausdrücken, dass Harry Potter letztlich nicht erwachsen wird. Er ist in seiner Adoleszenz stecken geblieben. Seine alte Magie ist verschwunden, eine neue steht aus - was bleibt, sind gänzlich zauberlose Pubertätswirren, für die die kurzzeitige Freundin Cho herhalten muss.

Hoyerswerda ist überall

Wie anders steht es da mit der Magie in Hoyerswerda! Krabat erfährt sie am eigenen Leib. Die Magie greift in das Heranwachsen selbst ein - ein Lehrjahr an der Zaubermühle zählt wie drei -, genauso wie bei Otfried Preußler die Liebe mit magischen Mitteln verfolgt wird. Was könnte größer sein als der Wunsch, bei seinem Mädchen zu sein, und also mehr zur Magie einladen!

Das Heranwachsen und die Liebe lassen Krabat erst erkennen, was Gut und Böse ist; seine Erlösung ist zugleich ein Sieg der Liebe über den Tod. Und weil Hoyerswerda überall ist, könnte ja ein bisschen von der Aufmerksamkeit, die jetzt Harry Potter genießt, auch auf Krabat fallen.
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Von MagisterForan 12:18 - (Link zu diesem Artikel)